☰
Andreas Kuhrts regelmäßige “Beziehungen” mit männlichen Jugendlichen blieben auch seinem Umfeld nicht verborgen und wurde in den 90er Jahren in der linken Szene- Zeitschrift “Interim” kontrovers diskutiert. Unter dem Pseudonym “XY”, “M”, später auch “Pipo” wurde sein Verhalten und dessen Vereinbarkeit mit linkem Selbstverständnis erörtert.
Während er durch die “Fraktion für Nebenwidersprüche” als Päderast geoutet und diskreditiert wurde, nahmen seine jugendlichen Partner und Ex-Partner ihn anfangs öffentlich in Schutz. Primär stellte sich die Frage, ob der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gegenüber A. Kuhrt den betroffenen Jugendlichen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung abspräche, da keiner von ihnen sich öffentlich als Opfer sexuellen Missbrauchs verstand.
Die einschlägigen Regelungen des Strafrechts fanden in diesem Diskurs keine Erwähnung. Die öffentlich geführte Debatte ist insofern relevant, als die Erfüllung der strafrechtlichen Tatbestände von niemandem (Täter, Opfer, Umfeld) in Frage gestellt wurden, Streitpunkt war lediglich deren Beurteilung. D.h. die Kontroverse konzentrierte sich vollständig darauf, ob Päderasten unter bestimmten Umständen in der linken Szene Akzeptanz finden sollten.

Die Vorwürfe
– Interim 1. Juni 1995 – nachgehakt
Am 25. November 1993 erschien ein Schreiben von Agatha und Alfons in der Interim, in dem die Person “XY” des wiederholten Kindesmissbrauchs beschuldigt wurde. Die Verfasserinnen argumentierten, dass ähnliches Verhalten in einer Beziehung zwischen einer Frau bzw. einem Mädchen und einem Mann keine Akzeptanz finden würde und das Geschlecht des Opfers nicht drüber entscheiden sollte, ob sexueller Missbrauch stattgefunden hat.
Sie beschrieben, wie Straßenkinder bzw. Kinder aus entfremdeten, zerrütteten, teilweise gewaltsamen Elternhäusern auf der Suche nach einer Alternative von XY aufgenommen, manipuliert und missbraucht wurden. Der Artikel beschreibt eindrücklich das durch XY verfolgte Muster, bestehend aus Vertrauensaufbau, Isolation von Familie, Elternhaus und Freunden, Angebot von einer alternativen Lebenswelt, gepaart mit emotionaler Manipulation und Abhängigkeit. “Die Kids mit denen er zu tun hat, sind meist aus legalen/institutionellen Gewaltverhältnissen (Familie/Heim) ausgebrochen. … Sie leben illegal und wissen, was sie von der Institution zu erwarten haben, wenn sie zurück in die Legalität wollen. …. Folglich befinden sie sich unter einem enormen Druck: kommen sie mit den Verhältnissen bei XY nicht zurecht, bleibt ihnen nur der Weg zurück zu Eltern oder Heim mit allen Konsequenzen.”
Dem Artikel folgten einige Stellungnahmen junger Männer, Freunde von XY, die sich vor allem über die “Entmündigung Jugendlicher durch eine hierarchisch geprägte Erwachsenenwelt” beschwerten. Im Januar 1994 schlief die Debatte ein.
Am 1. Juni 1995 veröffentlichte die Fraktion gegen “Nebenwidersprüche” eine längere Stellungnahme über sexuelle Machtverhältnisse und erkundigt sich öffentlich nach dem weiteren Verlauf in der Auseinandersetzung mit XY. Es wird beklagt, dass XY sich nicht öffentlich äußert, in privaten Auseinandersetzungen aber regelmäßig verspricht, keine sexuellen Kontakte zu Jugendlichen mehr zu haben – ein Versprechen, an welches er sich nicht hält.
Der Artikel startet eine jahrelange Diskussion über das Verhalten XY in der linken Berliner Szene, die letztendlich mit seinem Rauswurf 1996 endet. Die Diskussion ist öffentlich, sowohl die mit XY in Verbindung gebrachten Jugendgruppen Antifa Jugendfront und Edelweißpiraten wie auch die linke Zeitschrift Interim stehen unter ständiger Überwachung des Staatsschutzes. Eingegriffen wird an keinem Punkt, polizeiliche Ermittlungen gegen XY wegen sexuellen Missbrauchs finden nicht statt.
Die Argumente der Verteidiger von Andreas Kuhrt
Kuhrts Argument, wie auch das seiner Verteidiger, bestand darin, auf die Mündigkeit der betroffenen Jugendlichen hinzuweisen und zu betonen, dass keine Gewalt oder Zwang angewendet wurde. Insbesondere die Jugendlichen betonten, dass es ihr Recht wäre, selbst zu entscheiden, mit wem sie sexuelle Beziehungen eingehen wollten und daß das durch den erheblichen Altersunterschied erzeugte Erfahrungsdefizit keinesfalls zwangsläufig zu einem Abhängigkeitsverhältnis führe. Das strategische und strukturierte Vorgehen von Kuhrt wurde dabei ausgeblendet.
Ältere Vertrauenspersonen der betroffenen Jugendlichen verließen sich auf deren Selbsteinschätzung, auch wenn ihnen die Vorgehensweise von Kuhrt teilweise seit Jahren bekannt (und suspekt) war. Niemand wollte den Betroffenen direkt sagen “du wurdest manipuliert” oder “deine (erste) sexuelle Erfahrung war ein Missbrauch”. Gleichzeitig erwiesen sich die Kritiker Kuhrts als unsensibel gegenüber den Betroffenen, gefangen zwischen dem Wunsch eigene Missbrauchserfahrungen zu verarbeiten und gleichzeitig grundsätzliche Fragen über linke Lebensideale zu beantworten.
Das Verteidigungsschreiben von Andreas Kuhrt
In seiner einzig öffentlich verfügbaren Stellungnahme erklärt Kuhrt, dass er sich fälschlicherweise selbst als Päderast bezeichnet hätte, diese Selbstverortung aber nicht zuträfe, da diese (im Gegensatz zu ihm) “an Kindern nicht an Jugendlichen” interessiert seien. Er weist im Weiteren darauf hin, dass er “auch” Beziehungen zu Gleichaltrigen hätte und seine Partner nicht “fallenließe”, wenn sie zu alt werden, schließlich sei er mit vielen von ihnen “noch …gut befreundet”. Er beschuldigt seine Kritiker “Bruchstücke aus (s)einer Biographie” heraus zu nehmen und weist darauf hin, dass einige Informationen über ihn nicht der Wahrheit entsprächen, wie zum Beispiel das Alter seiner Mitbewohner.
Gleichzeitig gesteht er seine “Beziehungen” zu Minderjährigen ein, jedoch nicht reumütig oder selbstreflektiert sondern empört. “Wenn ihr mich besser beobachten würdet, dann wüsstet ihr auch, dass meine ‘Sexualpartner’ keine von mir abhängigen Jugendlichen sind. Bald sind sie nicht mal mehr Jugendliche.” Diese Aussage demonstriert deutlich, dass Kuhrt (zu diesem Zeitpunkt Mitte dreißig) keinerlei Problem darin sieht, dass seine Sexualpartner (nach eigener Aussage) zum größten Teil Jugendliche sind. Er weist den Vorwurf der Abhängigkeit klar zurück, eventuelle Machtgefälle durch Erfahrungsdefizite werden nicht thematisiert.
Augenscheinlich ist Kuhrt der Auffassung, dass der in seiner sexuellen Entwicklung befindliche Jugendliche dem Erwachsenen mit seiner über Jahre gefestigten Sexualität (die laut eigener Aussage Missbrauch und Prostitution beinhaltet, also über den Erfahrungshorizont eines durchschnittlichen Erwachsenen ebenfalls hinausgeht) gleichberechtigt gegenübersteht und nicht für mögliche Manipulationen anfällig ist. Dies wird unterstrichen durch seine Aussage bei sexuellen Beziehungen sei doch nicht “die Frage des Alters …. sondern der Freiwilligkeit und Bedürfnisse beider Seiten” relevant.
Hierbei wird bewusst ignoriert, dass die Feststellung der eigenen sexuellen Bedürfnisse oft Jahre sexueller Entwicklung benötigt und selbst dann externalisiert werden muss. Einfach gesagt, ist die Erwartung an einen Jugendlichen, sich seiner sexuellen Bedürfnisse vollends bewusst zu sein und diese gegenüber einem doppelt so alten Sexualpartner einzufordern unrealistisch.
Kuhrt streitet den Vorwurf der Abhängigkeit beharrlich ab, genauso wie den Vorwurf, er hätte jemanden “verführt” oder “missbraucht. “Diejenigen, mit denen ich in den letzten Jahren solche Beziehungen hatte, hätten sowas nicht zugelassen, oder würden sich jetzt von mir distanzieren. Sie sind keine willenlosen Opfer, sondern selbstbewusste Menschen, die sehr wohl wissen, was sie wollen.” Mit dieser Aussage bezieht er sich auf seine 12-17jährigen ausschließlich männlichen Sexualpartner.
Dass sich Kuhrt seines Verhaltens durchaus bewusst ist, macht er klar, indem er der linken Szene “krassere … Moralvorstellungen … als in der Kirche oder dem Staat” vorwirft. Dies legt den Verdacht nahe, dass Kuhrt ganz bewusst linke/alternative Lebenszusammenhänge gewählt hat, die sich von der staatlichen Ordnung distanzieren, staatliche Gewalt und damit implizit auch das geltende Strafrecht ablehnen und im Zweifelsfall keine staatlichen Institutionen einschalten, um Missstände zu beseitigen. Er hat diese Zusammenhänge missbraucht, um seine eigenen sexuellen Bedürfnisse auszuleben und damit wiederholt sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen begangen.

Reaktionen der betroffenen Jugendlichen
Dennoch sollte die Debatte nicht ohne Folgen bleiben, da sie bei einigen betroffenen Jugendlichen einen langen und schmerzhaften Prozess der Selbstreflexion einleitete, die letztendlich mit der Spaltung und Auflösung der Edelweißpiraten und dem Rauswurf Kuhrts aus der bestehenden Wohngemeinschaft endete. Seine wortgewandtesten Verteidiger sollten etwa zwei Jahre später selbst Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen Kuhrt vorbringen und erklärten ihren Positionswechsel ebenfalls öffentlich.
Kuhrts manipulative Fähigkeit lässt sich anhand der Debatte in der Interim stark an jenen Beiträgen erkennen, welche ihn verteidigen. Oft sind es die Jugendlichen selbst, die sich schützend vor ihn stellen, manchmal angriffslustig, manchmal unbeholfen. Auch die Schwule Antifa springt ihm zur Seite.
So traurig es klingen mag: Das Outing Kuhrts und die szenenöffentliche Anfeindung haben manche Jungen (zumindest eine Zeitlang) noch stärker an den Täter gebunden, der die äußerliche Bedrohung geschickt auszunutzen wusste und sich hinter seinen jungen Verteidigern verschanzte. Dass die Kritik an Kuhrt auch als Angriff auf das eigene Lebensmodell wahrgenommen wurde, ist kein Zufall sondern leider Teil einer missbräuchlichen Struktur. Profitiert hat davon einzig der Täter selbst.